Mythograph

Kann ein youtube-Kanal ein Lesetipp sein, frage ich mich, als ich die Seite des „Mythographen“ durchstöbere. Natürlich kann er das, nämlich wenn er dazu anregt, sofort zu den Büchern zu greifen, aus denen in den Videos gelesen, über die diskutiert wird. Hinter dem Mythographen steckt der Schriftsteller Patrick Roth, der mir durch seine transzendenzeröffnenden Geschichten ans Herz gewachsen ist. So erzählt er selbst in seinem Eröffnungsvideo von seiner Gottesbegeisterung, die ihn vor Jahrzehnten durch einen Traum befiel, der wirklicher war als die Wirklichkeit. Sein Schreiben sieht er als Versuch an, sich Augenblicken der Traumerfahrung wieder zu nähern und erzählend wiederherzustellen, was er einst im Traum erlebt hat. Für ihn kommt diese Wiederherstellung einer Auferstehung gleich, die ein Grundmotiv in seinen Geschichten ist. Er erhofft sich, dadurch seine Gottesbegeisterung auf den Seiten eines Buches beschwören zu können, so dass diese Seite zum Ort eines ähnlichen Erlebnisses für andere werden kann. Auf sehr stille Weise scheint ihm das immer wieder zu gelingen.

Ich lausche seiner Lesung der Geschichte „Lichternacht“ und verstehe sofort, was er meint. Wirklichkeit und Traum vermischen sich, mythische Elemente leuchten aus den Tiefenschichten der Erzählung durch, der Sog der geheimnisvollen Handlung zieht mich gerade in diese Tiefe und eröffnet sie gleichzeitig für das Erleben von Transzendenz. Patrick Roths Stimme unterstützt die Atmosphäre des Geheimnisvollen. Die Geschichte zu hören, ist noch schöner, als sie zu lesen.

Aus anderen Geschichten, wie „Gottesquartett“ oder „Die Christus-Trilogie“, liest Patrick Roth nur größere Ausschnitte. Sie machen aber Lust, sich intensiv mit den Büchern zu beschäftigen. Seine Stimme werde ich während der Lektüre sicherlich nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Er wird mir von jetzt an im Grunde jede Geschichte vorlesen. Seine Lesung schenkt mir vor allem durch die biblisch klingende Sprache, die er beispielsweise in seinem Roman „Corpus Christi“ verwendet, eine Ur-Erfahrung, die mir zeigt, dass seine Geschichten sich um ewige Bilder drehen, die auch in meinem eigenen Inneren sitzen. Darum treffen mich die Geschichten so tief. Sie erzählen gewissermaßen von mir selbst und meinem Erleben der Wirklichkeit.

Unter den Videos finden sich zudem Aufzeichnungen verschiedener Poetikvorlesungen aus den letzten 20 Jahren, die Patrick Roth u.a. in Heidelberg und Frankfurt gehalten hat. Dort erfährt man, wie er schreibt, woraus sich sein Schreiben nährt. Man lernt viel über die Psychologie C.G. Jungs, die einen entscheidenden Einfluss auf das Schreiben Roths hat. Die Vorlesungen sind selbst kleine literarische Wunder, die ich jedem ans Herz legen möchte. Die allermeisten kann man in Buchform nachlesen. Das bietet sich an, denn wie ich in einem Video gehört habe, ist sein Geschriebenes auf Relektüre angelegt. Im Grunde ist es schön, dass es so reichhaltig ist, dass man also niemals an ein Ende, dem Göttlichen aber trotzdem immer näher kommt.

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