4. Advent 2022
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit
Der Advent geht langsam zu Ende und Weihnachten ist nah. Ich mache hoch die Tür und weit die Tor, singe die Worte dieses Liedes, wie ich es schon hunderte Male zuvor gemacht habe. Bei der letzten Strophe gerate ich plötzlich ins Stocken. „Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist“, soll ich nun singen. Ich frage mich unwillkürlich, ob das wahrhaftig wäre? Ist die Tür meines Herzens offen? Woran lässt sich das erkennen?
Ich denke an den letzten Sommer zurück. Da bin ich mit einer meiner Studentinnen zu ihren Islandpferden gefahren. Wir haben ihr altes Pferd von der Weide geholt. Es kannte mich nicht und doch ließ es sich von mir über einen Parcours führen; es ließ sich von mir striegeln und streicheln. Lange stand ich ganz allein mit ihm da. Sein Kopf war an meinen Körper geschmiegt, ich habe ihm immer wieder sanft über das weiche Fell gestrichen und es gespürt. Es war ganz still. Nur wir beide, die Nähe und die Zärtlichkeit waren da. Das Pferd hat mir sein Herz geöffnet und mir sein Vertrauen geschenkt. Ich konnte in sein Herz einziehen und habe den Einklang zwischen uns sehr genossen. Damals kam es mir so vor, als wäre dies genau die richtige Art und Weise, wie Wesen miteinander leben sollten.
Bin ich in der Lage, mein Herz gleichermaßen zu öffnen? Vertraue ich Gott und der Botschaft von Weihnachten, die von diesem Lied auf den Punkt gebracht wird? Der Text verkündet, dass „der Herr der Herrlichkeit“ kommt, und zwar zu allen Menschen. Er ist der „Heiland“ aller Welt. Gleichzeitig geht er mich persönlich etwas an. Die letzte Strophe wird aus meiner Perspektive heraus gesungen, ist wie ein Gebet zwischen mir und dem „Heiland“. Kann ich dem vertrauen? Ist noch Vertrauen in mir?
Manchmal frage ich mich, wie es sein kann, dass die Kirche dermaßen fahrlässig mit dem Vertrauen der Menschen umgeht. Erkennt sie nicht, was auf dem Spiel steht? Wenn sich Herzen verschließen, weil sie von der Kirche enttäuscht, betrogen oder missbraucht wurden, dann überschwemmt der Vertrauensverlust oft den gesamten Menschen. Er verliert nicht nur sein Vertrauen in die Kirche, sondern es ist wahrscheinlich, dass seine Vertrauensfähigkeit insgesamt verbittert und austrocknet. Ich befürchte, dass Glaube und Liebe dadurch Schaden nehmen.
Ich begegne jede Woche vielen Menschen, für die der Glaube an Gott keinerlei Rolle im eigenen Leben spielt. Sie leiden nicht einmal mehr unter der sogenannten Gottesscham, also der Scham, sich öffentlich zu einem Gott zu bekennen. Der Glaube an Gott ist in der säkularen Welt vielmehr zu etwas geworden, was von vielen nur noch belächelt wird. In der Ausstellung „wunderbar geborgen“ in der Überwasserkirche fiel mir darum eine Strophe des Liedes „Der Mond ist aufgegangen“ besonders ins Auge: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost verlachen, weil unsre Augen sie nicht sehen.“ Woher kommt dieses Verlachen dessen, was uns verborgen ist? Warum bemühen sich nur wenige, in die Tiefe des Geheimnisses der Wirklichkeit zu schauen? Vor einigen Tagen las ich in einer Geschichte, die in Madagaskar angesiedelt ist: „Vazahas [damit sind wir gemeint] glauben wenig. Ihr Leben muss sehr leer sein. Vielleicht haben sie deshalb all diese Fernseher und Autos und Kleider und Handys. Um ihr Leben zu füllen.“
Mir ist diese Feststellung von außen unheimlich und ich wünschte, ich wüsste einen Weg, der säkularen Welt deutlich zu machen, wie wertvoll ein Leben sein kann, wenn es vom Wesentlichen erfüllt ist. Ich wünschte, ich wüsste einen Weg, der Kirche aufzuzeigen, dass sie mit den Herzen der Menschen behutsam umgehen muss, damit die Welt nicht immer oberflächlicher und leerer wird.
Glaube und Vertrauen hängen eng miteinander zusammen. Ein Mensch, der glaubt, vertraut auf eine Wahrheit, die er selbst weder wahrnehmen noch sich gedanklich erschließen kann. Er glaubt, weil er dem Verkünder dieser Wahrheit sein Herz schenkt. Wer glaubt und vertraut, der liebt im Grunde. Er hat keine absolute Sicherheit, verschenkt sein Herz aber trotzdem, da das eigene Herz sagt, dass es verschenkt werden möchte, dass es in Ordnung ist, an diesen Wahrheitsverkünder verschenkt zu werden. Das Herz weiß, spürt, fühlt, dass dieser Verkünder es wert ist, dass er behutsam mit dem Herzen umgehen und das Vertrauen nicht missbrauchen wird. Das Herz weiß das, weil es spürt, dass die Liebe in diesem Verkünder ist.
Wie lässt sich diese Liebe in den Menschen wieder ausbauen? Wie lässt sich Vertrauen aufbauen? Was ist Vertrauen eigentlich? Das ‚trauen‘ in ‚Vertrauen‘ gehört zur Wortgruppe um ‚treu‘. Vertrauen hat also mit Treue zu tun. Ein Mensch, der einem anderen vertraut, ist sich sicher, dass der andere sich selbst treu sein wird, also auch in Zukunft so sein wird, wie er sich jetzt verhält. Ein Mensch, der einem anderen vertraut, ist sich außerdem sicher, dass der andere ihm treu sein und die vertrauensvolle Zuwendung nicht missbrauchen wird. Die Sicherheit speist sich meist daraus, dass dieser andere ihm vertraut ist. Wir vertrauen Vertrautem, weil wir es gut kennen und weil es zu uns gehört. Wenn wir eng mit anderen Menschen leben, sie in der Tiefe kennenlernen, werden sie zu Vertrauten. Wenn in dieser Tiefe Liebe ist, öffnen wir solchen Menschen gegenüber unsere Herzen.
Und wie verhält es sich mit Gott? Ich bin ein Verfechter von Verstandeserkenntnis und Vernunfterkenntnis. Ich interessiere mich sehr für die Erkenntnisse von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aller Art. Aber im Falle von Gott reichen diese Arten von Erkenntnis nicht aus, um an ihn und seine Wahrheit zu glauben. Im Falle von Gott müssen unsere Herzen bereits offen sein, d.h., sie müssen schon diesen Habitus der Öffnung in sich tragen. Darum ist es so gefährlich für unseren Glauben an Gott, wenn wir unsere Fähigkeit und unseren Willen zu vertrauen durch die Kirche verlieren. Denn erst mit offenem Herzen können wir Herzenserkenntnis haben. Glaube an Gott ist Herzenserkenntnis von Gott. Sie reicht tiefer als jede andere Art von Erkenntnis. Sie ist ein Spüren Gottes im eigenen Wesen. Dieses Spüren stärkt unser Vertrauen wiederum und weitet unser Herz.
Vielleicht ist es an der Zeit, neues Vertrauen zu wagen. Selbst wenn die Kirche ihr Vertrauen verspielt hat, sind wir nicht gezwungen, zu verbittern und leer zu werden. Wenn uns der Zusammenhang erst einmal bewusst ist, können wir trotz aller Enttäuschung versuchen, mit einem offenen Herzen durch die Welt zu gehen und wie das Pferd im Sommer einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Vor kurzem hörte ich eine Reflexion über das Lied „What a Wonderful World“. Dort heißt es: „I see friends shaking hands, saying, ‚How do you do?‘ They‘re really saying, ‚I love you‘“. Wenn Freunde einander die Hände schütteln und einander nach dem Befinden fragen, drücken sie damit eigentlich ihre Liebe zum jeweils anderen aus. Mich hat diese Erkenntnis sehr berührt. In mir hat sich dadurch die Gewissheit des Sommers verstärkt, dass diese kleinen Zärtlichkeiten dem anderen Wärme geben, dass sie Herzen öffnen und Vertrauen wachsen lassen. Ich denke an den 1. Advent und an die zarten Seelen zurück. Seelen werden zart, wenn sie Zärtlichkeiten verschenken oder empfangen. Ich nehme mir daher vor, in den verbliebenen Adventstagen, zu Weihnachten – und warum nicht für immer? – möglichst vielen Menschen meine Zärtlichkeit zu schenken. Menschen brauchen Zärtlichkeit, vor allem in einer solch schweren Zeit wie der gegenwärtigen, in der Kinder einen Krieg aushalten müssen. Ich bin mir sicher, dass Gott jeden zärtlichen Moment zwischen den Menschen nutzen wird, um in die sich öffnenden Herzen einzuziehen. Dann erst erfüllt sich die Botschaft von Weihnachten wirklich.
Johanna, 6 Jahre
Lena, 8 Jahre