Der Töpfer
Seit einigen Tagen habe ich ein Bild im Kopf:
Ich sehe einen Töpfer in seiner Werkstatt. Einst standen in seinen Regalen viele unterschiedliche Krüge: große, kleine, schlichte, pompöse, einige rauh und ursprünglich, andere glasiert und modern. Die große Vielfalt und die Qualität seiner Produkte machten den Töpfer bekannt und beliebt. Jeder, der einen passenden Krug suchte, wurde in seiner Werkstatt fündig.
Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. Jetzt ist der Boden der Werkstatt übersäht mit Scherben. Viele Krüge sind im Laufe der Zeit zerbrochen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einmal hat ein Erdbeben die Regale in der Werkstatt so stark erschüttert, dass einige Krüge zu Boden gefallen sind. Ein anderes Mal zerstörte ein Feuer einen Teil der Werkstatt und ließ Krüge zerbersten. Für diese Katastrophen konnte der Töpfer freilich nichts, das Feuer hatte er sogar zu löschen versucht. Aber einige Scherben gehen auch auf sein Konto, denn er selbst hat Krüge – absichtlich oder unachtsam – fallen lassen.
Ein zeitlang war der Töpfer auch der Ansicht, dass große und einheitliche Krüge besser ankämen, als kleine und individuell geformte Exemplare. Doch das Problem mit den sehr großen Krügen war, dass sie instabil waren und Risse bekamen, die immer größer wurden. Auch schwand im Laufe der Zeit die Nachfrage nach Krügen von der Stange.
Das alles hat sich herumgesprochen und es kommen inzwischen immer weniger Interessenten zu ihm.
Noch sind in seiner Werkstatt aber nicht alle Krüge zerbrochen. Der Töpfer steht jetzt inmitten eines großen Scherbenhaufens und hebt einen der wenigen heil gebliebenen kleinen Krüge vom Boden auf. Was geht ihm durch den Kopf, wenn er ihn betrachtet, ihn in seinen Händen dreht und wendet? Was wird er mit ihm tun? Welchen Wert wird er ihm beimessen, wenn er seine Werkstatt, in der aktuell die Scherben dominieren, in Gänze betrachtet?
Möglicherweise rät ihm jemand dazu, diesen und die wenigen anderen noch unversehrten Krüge zu zerschlagen, um einen Schnitt machen zu können und künftig auf andere Produkte und Materialien zu setzen. Ein Wagnis, denn er weiß nicht, ob es Interessenten für die neuen Erzeugnisse geben wird. Und diejenigen, die bislang wegen der individuellen und stabilen Krüge zu ihm kamen, wird er durch diese Entscheidung wahrscheinlich verlieren.
Vielleicht behandelt er die wenigen erhaltenen Exemplare aber auch mit großer Sorgfalt, und wird sich darüber bewusst, dass seine stabilen und individuell gestalteten Krüge immer noch sehr beliebt sind. Er könnte analysieren, warum sie so stabil sind, dass sie bis jetzt nicht zerbrochen sind. Er könnte die Mitarbeiter in seiner Werkstatt befragen, was sie bei diesen Krügen hinsichtlich der Zusammensetzung des Materials und in der Herstellung anders gemacht haben. Er könnte versuchen, nach diesem Vorbild seine Regale wieder mit stabilen und einzigartigen Krügen zu bestücken, in der festen Überzeugung, dass sie sich wie einst großer Beliebtheit erfreuen werden. Er könnte die Talente seiner Mitarbeiter stärker wertschätzen, sodass sie stolz sind, in seiner Werkstatt arbeiten zu dürfen. Und er könnte diejenigen, die seit Wochen immer wieder an seine Tür klopfen und darum bitten, ihnen einen der letzten heilen Krüge zu überlassen, befragen, warum sie eben diese besonders schätzen.
Für welchen Weg wird sich der Töpfer entscheiden?