Brüche vergolden
Das Bild vom Töpfer, das Barbara Kneißler in ihrem Text zeichnet, finde ich bewegend und stark. Es hat mich angeregt, über Brüche und Scherben und unseren Umgang damit nachzudenken. Im Text werden dem Töpfer mit den vielen zerbrochenen Krügen zwei Wege aufgezeigt, mit dem Scherbenhaufen in seiner Werkstatt umzugehen: Er könne sich dazu entschließen, die letzten noch unversehrten Krüge ebenfalls zu zerschlagen, „um einen Schnitt machen zu können und künftig auf andere Produkte und Materialien zu setzen“. Oder er könne „die wenigen erhaltenen Exemplare aber auch mit großer Sorgfalt“ behandeln, ihre Stabilität und Einzigartigkeit würdigen und sie als Modell für die Zukunft seiner Werkstatt wertschätzen. Ich möchte unserem Töpfer, der inmitten seines Scherbenhaufens steht, noch eine dritte Möglichkeit aufzeigen:
Kintsugi, so nennt sich eine japanische Kunsttechnik, die sich inzwischen auch in Nordamerika und Mitteleuropa wachsender Beliebtheit erfreut. Dabei werden zerbrochene Schalen, Tassen – oder eben auch Krüge – mit viel Mühe und Sorgfalt wieder zusammengesetzt. Nichts Neues, könnte jede*r meinen, der oder die schon einmal mit Alleskleber den zerbrochenen Kinderbecher zu reparieren versucht hat, der beim Frühstück vom Tisch geflogen ist. Kintsugi lehrt uns aber eine andere Methode als das möglichst nahtlose und kaum erkennbare Wiederzusammenfügen einzelner Scherben durch transparenten Klebstoff. Die japanische Restaurationstechnik macht die Risse nämlich bewusst sichtbar. Sie sind schließlich da; es ist zuerst etwas zu Bruch gegangen. Wenn es einmal heftig gescheppert hat, dann können wir nicht so tun, als sei das nie passiert. Und dieser Moment hat laut geknallt, hat uns erschreckt, verärgert oder traurig gemacht. Kintsugi ermahnt uns, die dabei entstandenen Scherben und Brüche anzuschauen und ernst zu nehmen und sie nicht wegzudenken. Und die Methode geht sogar noch einen Schritt weiter: Die nach einer Reparatur noch zu sehenden Bruchstellen werden anschließend mit goldener Farbe versehen und deutlich hervorgehoben. Sie werden sichtbar gemacht – das krasse Gegenbeispiel zur deutschen Pattex-Technik, bei der, solange man nur nicht genau hinsieht, die Spuren des Zerbrochenen nicht mehr zu erkennen sind und hoffentlich ganz schnell alles so aussieht wie früher.
Ja, das ist keine angenehme Aufgabe und das kostet viel Kraft und Mühe, auch für den routiniertesten Töpfer: In die Knie gehen und die Scherben einzeln aufheben, auf dem kalten Boden der Werkstatt. Sich die Zeit nehmen, alle Stücke anzuschauen. Trauer und Schmerz zulassen über alles Zerbrochene, was einmal war. Die einzelnen Teile aber nicht loslassen wollen. Alles aufmerksam wieder zusammensetzen, damit die wertvollen Stücke eine Zukunft erhalten. Warten und die offenen Stellen trocknen lassen – mit Ruhe und Geduld. Und ganz zum Schluss, wenn die Kraft vielleicht kaum noch reicht, die Brüche vergolden und nach und nach jeden einzelnen Krug wieder ins Regal stellen – neben die noch verbliebenen und die neu hinzugekommenen Krüge. Die Werkstatt zum Leuchten bringen durch die vielen goldenen Brüche. Was wäre das für ein Anblick?
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