1. Advent 2022

O Little Town of Bethlehem

Im September ist die Queen gestorben. Ich gebe zu, dass ich die königliche Familie nach dem Tod von Diana vor 25 Jahren komplett aus den Augen verloren hatte. Ich weiß daher selbst nicht, warum ich beim Kochen meines Mittagessens ihre Auferstehungsfeier laufen hatte. Ich schaue nie Gottesdienste im Fernsehen, weil sie mich nicht berühren. Der Bildschirm raubt jedem Gebet seine Mystik. Und so fiel mein Blick eher auf den weiß gewordenen King Charles, die wenigen Haare von Prince Edward und Prince William, auf die burschikose Princess Anne. Alle waren alt geworden. Erst als der Kommentator „wo zarte Seelen ihn empfangen“ sagte, merkte ich auf. Was meint er denn damit? Woher stammt das? Aus einem Lied? Aus der Bibel? Ich fing an, diesem Satz nachzugehen, versuchte, ihn ins Englische zu übersetzen. Bald fand ich das Original: „Where meek souls will receive him, still the dear Christ enters in“ aus dem Weihnachtslied „O Little Town of Bethlehem“.

Während ich noch über die Bedeutung der „zarten Seelen“ nachdachte, wechselte ich zu meinen emails und musste lesen, dass ein enger Freund von mir gestorben ist. Im Hintergrund lief weiter der Gottesdienst. Ich wechselte das Bild erneut, stand erst wie versteinert vor dem Geschehen dort, das nun völlig an mir vorbeilief, und schaltete die Übertragung dann aus. Der Tod ist eine der existentiellsten Erfahrungen im Leben und es gehört sich nicht, an ihr als eine Art Show teilzunehmen, ohne selbst betroffen zu sein.

Mein Blick fiel wieder auf den Liedtext: „Wie still, wie still wird dieses erstaunliche Geschenk gegeben. Gott gewährt den menschlichen Herzen all das Segensreiche seines Himmels.“ Das ist wirklich erstaunlich. Wir haben es nicht unbedingt verdient und werden dem Geschenk niemals gerecht. Und trotzdem ist es da, völlig unerwartet und ohne groß Aufsehen über sich selbst zu machen. Alles, was wir tun müssen, ist, es anzunehmen. „Wo zarte Seelen ihn empfangen“… „Meek“ kann man auch mit „sanftmütig“ übersetzen. Wenn wir unsere Seelen sanftmütig sein lassen, wenn wir das Zarte in uns selbst finden und wirken lassen, dann sind wir bereit, das stille und zarte Geschenk zu spüren, das Gott uns anbietet. Dann kann Christus in uns eingehen und uns mit der Liebe des Himmels erfüllen.

Meine Gedanken gehen zu meinem Freund. Hatte er eine sanftmütige Seele? Konnte er das zarte Geschenk annehmen? Ich habe keinen anderen Menschen gekannt, der mit solch einer Festigkeit wie er in der Kirche geblieben ist, auch wenn die Predigten die heiklen Stellen in den Evangelien immer ignoriert haben, auch wenn sich Priester als Missbrauchstäter herausgestellt haben – weil es ihm auf etwas anderes ankam. Er hatte einen unumstößlichen und völlig unaufgeregten Glauben an die Wahrheit selbst und ihr wollte er mit aller Aufmerksamkeit auf die Spur kommen. In seiner Gegenwart hatte ich immer das Gefühl, dass die zweckrational geprägte vita activa eher nebensächlich ist und dass das Entscheidende in der zweckfreien vita contemplativa stattfindet. Das war seine Beziehung zu Gott. Jeder Kampf, jeder Streit war ihm daher fremd. Er konnte seine Positionen ohne Aufregung vertreten, weil sie aus seinem unendlichen Horizont hervorgegangen sind und daher immer gut begründet waren. Ich bin mir sicher, dass er die Wahrheit selbst mit seiner sanftmütigen Seele nun voller Interesse und Aufmerksamkeit schaut. Endlich ist er da, wo es ihn immer hingezogen hat.

Mir ist dies seitdem ein kleiner Trost angesichts des unbeschreiblichen Verlustes. Ich denke immer wieder an die „zarten Seelen“ und möchte mich in diesem Advent ganz auf die segensreichen Geschenke des Himmels einlassen, die uns entgegenkommen. Für jeden wird der Weg ein anderer sein. Die zarten Seelen, die mein Leben gekreuzt haben, haben sehr deutliche Spuren hinterlassen – Spuren in meinem Herzen und in meinem Erfassen der Wirklichkeit. Ich muss nichts anderes tun, als in all ihre Fußstapfen zu treten, um aus ihnen zusammen meinen eigenen Weg zu formen.

Benjamin, 6 Jahre

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