2. Advent 2022

Walking in the Air

Manchmal tut es gut, alles aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich denke hier sofort an eine Szene aus dem Film „Der Club der toten Dichter“. Der Lehrer John Keating stellt sich in einer Unterrichtsstunde auf sein Pult, um sich selbst daran zu erinnern, dass wir Dinge stets anders betrachten müssen. Die Welt sieht aus dieser Perspektive nicht so aus, wie wir es gewohnt sind. Darum fordert er seine Schüler auf, ebenfalls auf das Pult zu klettern. Sie sollen nicht einfach übernehmen, was andere ihnen vorgeben, sondern ihre eigene Sicht und ihre eigene Stimme finden. Statt wie die Lemminge durch das Leben zu laufen, sollen sie sich umschauen. Durch ihn lernen sie den Wert von Poesie, Schönheit und Liebe als etwas kennen, für das es sich lohnt, am Leben zu bleiben. Dafür müssen sie aber ihre Eingebundenheit in die Strukturen auftrennen, sich vom Zwang eines zweckrationalen Daseins lösen und es wagen auszubrechen. Dass Mr. Keating etwas in ihnen anstößt, zeigt das Ende des Films. Jedenfalls einige von ihnen stehen für ihn auf, steigen auf ihren Tisch und rufen „O Captain! My Captain!“, statt gehorsam den Befehlen der Schulleitung zu folgen, zu schweigen und dadurch ihren Lehrer und sich selbst zu verraten.

Ist es nicht an der Zeit, dass wir alle uns vom Konventionellen befreien – sei es im Alltagsleben oder in der Kirche –, um das Eingefahrene aufzubrechen? Im Lukasevangelium steigt der Zöllner Zachäus auf einen Feigenbaum, um dort oben auf Jesus zu warten, ihn aus der Höhe in Ruhe zu betrachten, statt sich ins Gewühl zu stürzen und in der Menge unterzugehen. So sind auch wir aufgefordert, neue Perspektiven einzunehmen, um das Entscheidende nicht zu übersehen. Im Schwarm verschwinden wir. Wir verlieren unsere Individualität und unsere einzigartige Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zachäus konnte nur daher von Jesus gefunden und angesprochen werden, weil er die Menge verlassen hat. Nur von dort oben war er in der Lage zu spüren, dass Jesus es ehrlich mit ihm meint, dass er wirklich an einem Zöllner interessiert ist. Er musste diese Perspektive einnehmen, um Vertrauen wagen und sich in die offenen Arme von Jesus fallen lassen zu können. Wenn wir die Befreiung vom Konventionellen wagen, lernen wir das Leben und die Menschen neu kennen.

Manchmal reichen ein Pult oder ein Baum dafür nicht aus. Manchmal brauchen wir jemanden, der uns an die Hand nimmt und uns, bildlich gesprochen, hoch in die Lüfte hinaufreißt und dadurch neue Horizonte eröffnet, wie es in dem Lied „Walking in the Air“ geschieht. Dort erwacht um Mitternacht ein Schneemann zum Leben und nimmt den Jungen, der ihn gebaut hat, mit auf eine Reise. Die beiden fliegen durch die Schneeflocken, tanzen im Mondlicht durch die frostige Luft. Während die Menschen schlafen, hält sich der Junge vertrauensvoll an seinem Schneemann fest und erlebt die Welt dadurch neu. Er trifft auf das Geheimnishafte der Wirklichkeit. Ein Mädchen, das im Nachthemd am Fenster sitzt und in die Nacht schaut, traut ihren Augen nicht, als sie die beiden an sich vorbeifliegen sieht. Sie wundert sich und fragt sich, welchem Weihnachtswunder sie gerade begegnet ist.

Wenn es um den Grund der Wirklichkeit, also um Gott geht, müssen wir in die Tiefe schauen. „Der stumpfgewordene Spießersinn findet alles selbstverständlich“, schreibt Josef Pieper. Aber ist irgendetwas wirklich selbstverständlich? Wenn das Alltägliche und für selbstverständlich Genommene plötzlich erschüttert wird, weil jemand es für uns infrage stellt, dann wird unser Bild der Wirklichkeit durcheinandergebracht. Wir selbst werden aufgerüttelt und erschüttert. Die Wirklichkeit erscheint neu auf uns, weil uns zum ersten Mal klar wird, dass wir eigentlich nicht wissen, was da vor uns ist. „Die Wesenheiten der Dinge sind uns unbekannt“, bemerkt Thomas von Aquin. Wir werden daher still und lassen das Gesehene auf uns wirken. Wir bleiben an ihm hängen, statt unseren Blick sofort weiterschweifen zu lassen. Es bleibt ein Rätsel und wir geraten ins Staunen. Im Staunen wollen wir den verborgenen Grund der geheimnishaften Wirklichkeit erkennen. Wir werden zu Gott hin verwiesen und machen uns auf den Weg.

Im Advent herrscht eine besondere Stimmung. Alles ist erleuchtet und damit in ein anderes, ungewohntes Licht getaucht. Die Wirklichkeit präsentiert sich uns neu und lädt uns ein, einen frischen Blick auf sie zu werfen und ins Staunen über sie zu geraten. Wer im Gewöhnlichen das wahrhaft Ungewöhnliche sieht, wird aus diesem Staunen niemals herauskommen. Das Geheimnis, das die Wirklichkeit ist, ist ein „unaustrinkbares Licht“, wie Pieper herausstellt, das wir auch durch immer neue Perspektiven nicht entschlüsseln werden. Vielleicht wird die staunende Betrachtung aber den Mut in uns hervorbringen, uns von den festgefahrenen Konventionen nicht mehr einschnüren zu lassen und immer wieder neues Denken zu wagen.

Samuel, 7 Jahre

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