2. Advent 2021

The First Noel

Das traditionelle englische Weihnachtslied „The First Noel“ vermischt die Erzählungen über die Geburt Jesu aus dem Lukas- und dem Matthäus-Evangelium miteinander. Die Hirten und die weisen Männer werden hier durch denselben Stern auf die Geburt aufmerksam gemacht. Ich muss zugeben, dass ich immer die Hirtengeschichte vorgezogen habe. Ich mag die Idee von Lukas, dass Jesus, der Retter der Menschheit, der „König von Israel“, wie es im Lied heißt, eine sehr einfache Geburt erfahren hat. Dazu passt, dass das erste Weihnachten von einer Gruppe armer Hirten geteilt wurde. Das Bild ist einfach so schön. Es ist dunkel und kalt und die Hirten liegen mit ihren Schafen in einer Winternacht auf einem Feld. Der Wind pfeift um ihre Ohren, ihre Kleidung ist sparsam, so dass sie tief in sich eingesunken neben den Tieren Schutz suchen. Und gerade diesen Hirten wird die Geburt des Königs von Israel zuallererst verkündet. Es könnte keine Adressaten geben, die unangemessener wären – könnte man denken. Aber darum geht es Lukas gerade. Schon die Geburt Jesu macht deutlich, dass kein normaler König erwartet wird, sondern dass mit Jesus etwas Einmaliges geschehen ist. Er ist der König der einfachen Menschen, d.h., jetzt werden diese einfachen Menschen in den Mittelpunkt gestellt und keine äußeren Werte, wie es sonst bei einem König der Fall ist. Es geht nicht darum, dass hier Macht und Reichtum geboren worden sind, sondern dass eine Gruppe armer Hirten plötzlich etwas Wundersames erblickt und überwältigt wird. Für sie öffnet sich eine neue Welt.

Um das herauszustellen, verlässt sich das Lied auf den Gegensatz von Dunkelheit und Licht. In die unwirtliche Atmosphäre auf dem Feld bei Nacht strahlt ein Licht. Die Hirten erblicken weit im Osten einen funkelnden Stern, der die Erde hell erleuchtet. In ihre kalte, windige, ärmliche Dunkelheit erstrahlt ein helles Licht und ihre Blicke werden davon angezogen. Ihre Herzen wärmen sich. Und es ist genau dieser Stern, der auch die Weisen aus einem fernen Land anzieht. An dieser Geschichte interessiert mich vor allem der eine Satz: „Sie folgten dem Stern, wo auch immer er ging“. Ist das nicht die tiefe Botschaft von Weihnachten? Geht es nicht im Leben darum, immer dem Licht zu folgen, weil es den Menschen gerade zum Leben, zum eigentlichen Leben führt? Die weisen Männer könnten ganz auf ihre Weisheit bauen. Stattdessen geben sie die Kontrolle ab und vertrauen auf den Weg, den der Stern ihnen weist, und kommen zum Leben, zum neuen Leben.

Auch wenn dieses Lied das Geschehen nicht authentisch wiedergibt, so trifft es doch den Kern von Weihnachten. Selbst die Melodie des Liedes gleicht in ihrer Zärtlichkeit einem Licht. Ich erinnere mich gut an ein sehr dunkles Weihnachtsfest vor vielen Jahren, wo ich beides zum ersten Mal spüren konnte. Ich habe meinen Großvater besucht und bekam sogleich die Nachricht, dass ein wichtiger Mensch von uns sich gerade das Leben genommen hatte. Eine bleierne Schwere fiel auf uns und Weihnachten war im Grunde vorbei. Dann aber hat mein Großvater sich gewünscht, dass ich ihm ein Lied auf der Gitarre vorspiele. Ich wollte das nicht, war zu traurig, wollte kein Lied „verlieren“, also für immer mit diesem Ereignis in Verbindung bringen. Aber mein Großvater war sehr sehr alt und ich wusste nicht, wie oft es noch die Gelegenheit geben würde, ihm ein Lied auf der Gitarre vorzuspielen. Also habe ich dieses hier ausgesucht, weil es so still und schön ist. Ich möchte nicht sagen, dass wir durch das Lied geheilt wurden, aber ein Licht war es trotzdem. Es hat uns wieder vor Augen geführt, dass man in der Dunkelheit niemals völlig ausgeliefert ist. Es gibt immer ein Licht, das an Weihnachten geboren wurde. Ein Licht, das Wärme und Hoffnung schenkt. Ein Licht, das kein Leben nimmt, sondern zum Leben führt.

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