3. Advent 2021

Kündet allen in der Not

Leben wir nicht alle irgendwie in der Not? Ich kenne keinen Menschen, der nicht schon einmal eine große Dunkelheit erlebt hat. Kein Mensch ist heil. Ein Heil-iger ist heil, aber ein Heiliger ist kein wirklicher Mensch mehr. Er war einmal ein Mensch und als er ein Mensch gewesen ist, war er nicht heil. Weil wir nicht heil sind, brauchen wir Heilung. Uns fehlt es an ziemlich vielem, selbst wenn wir dieses Fehlen nicht unbedingt als Not bezeichnen würden. Es fehlt uns an dauerhafter Gesundheit, an grenzenloser Liebesfähigkeit, am Bewusstsein dafür, wohin uns unsere Sehnsucht wirklich zieht. Wir durchschauen auch sonst sehr wenig. Gott durchschauen wir nicht.

Gott – das große Mysterium. Dass Gott absolut unbegreiflich ist, ist in der katholischen Kirche eine feste Lehre. Wir spüren Gott immer wieder im Leben, aber kein Lebender hat ihn je geschaut und kann ihn auch nicht schauen, erst recht nicht begreifen. Wie kann es sein, dass so viele Menschen trotzdem an ihn glauben? Es gibt auf den ersten Blick keinerlei Hinweis auf ihn in der sinnlichen Welt. Keiner kann Gott sehen oder hören oder riechen oder fühlen. Mit unseren Fingern können wir ihn nicht berühren. Auch das bedeutet es, dass er unbe-greif-lich ist. Wir glauben also an die Wirklichkeit eines Gottes, der sich unseren Sinnen entzieht. Aber noch viel mehr: Wir glauben an die Wirklichkeit Gottes, der sich unserer geistigen Erkenntniskraft entzieht. Wir können noch so viel nachdenken, noch so viel Theologie, also Gotteslehre, studieren, wir scheitern an dieser Hürde der absoluten Unbegreiflichkeit. Alles, was wir über Gott zu wissen meinen, ist letztlich menschlich und nicht göttlich. Wir müssen immer von unserer Perspektive ausgehen und können sie niemals verlassen. Wer meint, Gott zu begreifen, hat ihn auf die menschliche Ebene hinuntergezogen und entgöttlicht. Und trotzdem glauben wir an ihn. „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten“, stellt Karl Rahner fest. Erstaunlich, wenn uns dies gelingt, oder?

„Fasset Mut und habt Vertrauen“, heißt es im Lied. In unserer alltäglichen un-heil-igen Situation wie in großer Not brauchen wir nicht zu verzweifeln. Das Heil wartet auf uns, weil Gott es uns schenken möchte. Der Advent lädt uns ein, den Mut aufzubringen, sich von der Not nicht überschwemmen und kleinmachen zu lassen, sondern darauf zu vertrauen, dass wir an Gottes Wirklichkeit festhalten dürfen. Auch wenn wir diese Wirklichkeit weder sehen noch begreifen können, dürfen wir ihr in voller Zuversicht unser Herz schenken. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass diese Wirklichkeit uns angeht. Gott ist nicht einfach nur Wirklichkeit. Er ist unsere Wirklichkeit. Der Advent verspricht uns, dass Gott zu uns kommt.

„Blinde schaun zum Licht empor“, fährt das Lied in der vierten Strophe fort. Jetzt sehen wir Gott nicht, weil unsere Augen zu schwach dafür sind, Gott in seiner Unbegreiflichkeit zu erkennen. Thomas von Aquin sagt, dass Gott an sich vollkommen und absolut begreifbar ist – nur wir haben die Augen nicht, ihn zu sehen. Er ist ganz hell, eigentlich unübersehbar, nur wir sind blind. Und doch verheißt der Advent, dass wir selbst als Blinde einmal zum Licht emporschauen werden. Das liegt nicht daran, dass wir unsere Augen irgendwann einmal dahin gebracht haben werden, sondern an Gott, der uns sein Licht schenkt. „In Deinem Licht schauen wir das Licht“, lesen wir in Psalm 36,9. Wenn Gott uns sein Licht schenkt und unsere Augen heilt, können wir ihn selbst – das Licht – schauen. „Herrlich werdet ihr ihn schauen“, verspricht das Lied darum. In der Herrlichkeit Gottes werden wir Gott schauen.

In diesem Leben ist das nicht möglich. Wir erleben die Herrlichkeit Gottes jetzt nicht. Wir leben noch in der Not, sind noch im Un-heil. Aber wir haben die Verheißung der Herrlichkeit, die sich im Advent langsam ankündigt. Verkünden sollen wir, dass alle Menschen sich, auch wenn sie sich gerade in einer scheinbar ausweglosen Not befinden, auf das verlassen dürfen, was an Weihnachten in unsere Welt gekommen ist. Gottes Liebe, die durch die Geburt Jesu Christi ganz konkret für den Menschen wurde, wird keinen Notleidenden im Stich lassen. Liebe lässt nicht im Stich. Liebe möchte jede Wunde des Geliebten heilen. Liebe möchte eine untrennbare Verbindung.

Und wir? Wir möchten natürlich gerettet und geheilt werden. Wer würde das nicht wollen? Wir möchten natürlich begreifen, was bisher unbegreiflich für uns war. Aber wollen wir wirklich nichts anderes, als Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit und in all seiner Herrlichkeit zu schauen? Ich meine, ja. Warum sonst würden wir Jahr für Jahr wieder Weihnachten feiern, wenn wir uns nicht danach sehnen würden, die grenzenlose Liebe auch nur ahnend zu berühren? Warum sonst würden wir im Advent Jahr für Jahr auf diese Lichtgeburt hinleben, wenn sie nicht das wäre, was uns wirklich und zutiefst angeht? Auch wenn die Liebe, die mit der Geburt Jesu Christi in die Welt gekommen ist, anders ist als die Liebe, die wir zu anderen Menschen oder Tieren empfinden, so werden wir unaufhaltsam von ihr angezogen. „Glücklich ist, wer schaut, was er liebt“, hat Josef Pieper einmal bemerkt. Es reicht uns nicht, von unserem Gott geliebt zu werden. Wir wollen, um selbst glücklich werden zu können, diesen Gott schauen. Wir wollen nicht länger in unserer Blindheit ausharren. Wir möchten erkennen, was wir lieben. Selbst wenn die Unbegreiflichkeit Gottes auch in der ewigen Schau bestehen bleibt, sein Geheimnis nicht gelichtet wird, so werden wir in die Erkenntnis der Liebe hinein befreit. Erst dann werden wir von unserer Not erlöst und heil sein.

Ich mag einen Gedanken von Bettina von Arnim sehr: „Wer sich nach Licht sehnt, ist nicht lichtlos, denn die Sehnsucht ist schon Licht“. Der Advent ist eine Zeit der Sehnsucht, eine Zeit, in der uns unsere Sehnsucht nach dem Licht der Liebe Gottes bewusst wird. Wenn wir gerade in einer tiefen Not stecken, reicht es daher vielleicht schon, an dieser Sehnsucht festzuhalten und darauf zu vertrauen, dass sie ans Ziel führt. Das ist dann bereits ein Funke des göttlichen Lichtes, der uns nicht mehr länger blinden Glauben, sondern greifbare Gewissheit unseres Heils schenkt. Wer der eigenen Sehnsucht nach dem Licht folgt, erlebt bereits, dass die Not nicht das letzte Wort hat, sondern vom Licht der Liebe erlöst wird.

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